In einer fremden Welt
Das multimediale Projekt „Lost Children“ des Rationaltheaters zeigt Lebensrealitäten minderjähriger Geflüchteter – aus Vergangenheit und Gegenwart.
Eröffnet wird die ganzjährige Programmreihe am Samstag, 8. April, mit Fotografien von Gerti Deutsch und Mario Steigerwald, der auch anwesend sein wird. Zwischen ihren Arbeiten liegen 77 Jahre: Steigerwald dokumentierte 2015 die Ankunft junger geflüchteter Syrer, Afghanen und Äthiopier in München, Deutschs Bilder zeigen deutsche Flüchtlingskinder, die 1938 in England eintrafen – eine traurige Parallele, die intendiert ist. Denn die Ausstellung soll auch darauf aufmerksam machen, dass Kinder damals wie heute vor Krieg, Terror und Missbrauch fliehen müssen und ihre Fluchtgeschichten sich kontinuierlich durch die Menschheitsgeschichte ziehen.
Das beweist auch der Oscar-prämierte Dokumentarfilm „Kindertransporte – In eine fremde Welt“ aus dem Jahr 2000, der die Biografien von vor dem Nationalsozialismus fliehenden Kindern nachzeichnet. Das Rationaltheater zeigt den Film am 15. April. Eine andere Fluchtgeschichte erzählt die Autorin Badeeah Hassan Ahmed, die am 13. Mai aus ihrem Buch „Eine Höhle in den Wolken“ liest und berichtet, wie sie vor acht Jahren dem Islamischen Staat entkam. Darüber hinaus ist für den Sommer die Aufführung der performativen Gastarbeitererzählung „Barfuß Nackt Herz in der Hand“ geplant sowie ein Themenabend mit dem Staatswissenschaftler Said Al-Dailami zur Situation von Kindern in Jemen.
Erstunterkunft für Flüchtlinge aus der Ukraine
Wir bieten ab nächster Woche sechs Flüchtlingen aus der Ukraine eine kurzfristige Erstunterkunft im Rationaltheater an. Dazu bauen wir unsere Bühne in ein Matratzenlager um und stellen die Dusche und Toilette in der Künstlergarderobe zur Verfügung. Von dort aus verteilen wir die Familien in Unterkünfte, die für mehrere Wochen kostenlos genutzt werden können. Im Moment verfügen wir über drei Zimmer, die wir mit bis zu acht Personen belegen dürfen. Um weitere Familien zu beherbergen, suchen wir noch mehr leerstehende Wohnräume in München und Umgebung.
Wenn Sie uns helfen können, kontaktieren Sie bitte: Jurij Diez juradiez(at)gmail.com oder Elena Llopis elena(at)rationaltheater.de
Unser Theaterbetrieb läuft uneingeschränkt weiter, alle Vorstellungen finden zu den veröffentlichten Terminen statt.
Meer der heulenden Seelen
Für Alejandro Calderon Jaffe sind Flucht und Gewalterfahrung familiäre Referenzpunkt für seine Kunst. In einer Schau im Rationaltheater geht es dem gebürtigen Venezolaner um Wunden, Ängste und Einsamkeit, aber auch um Hoffnungszeichen.
Mit Jaffees Ausstellung „Rückkehr“ geht das Rationaltheater einen stillen Weg der Wiedereröffnung. Nach langen eineinhalb Jahren. Schon einmal hatte der Künstler, der sonst als Chef-Grafiker die Plakate für das Theater entwirft, seine Werke dort auf- und dann, dem Lock-down geschuldet, wieder abgebaut. (…) Theater ist Illusion, Täuschung, ein Spiel mit Raum und Licht.
Jenseits des Horizonts – eine gelungene Premiere!
Erzählt wird die Geschichte zweier Brüder aus einer bereits im 18. Jahrhundert in die Ukraine ausgewanderten Familie deutscher Kolonisten. Ausgelöst vom 2. Weltkrieg und den Deportationen der Russlanddeutschen in der Sowjetunion, trennen sich die Wege der beiden Brüder. Bei Kriegsausbruch fordert die Mutter den Söhnen ein Versprechen ab: Egal, welches Glück oder Unglück ihnen im Leben zustoßen mag, sollen sie ihr Briefe schreiben: „Es gibt keine Briefe, die eine Mutter nicht erreichen…“
Wir haben uns sehr gefreut, den 1. Vizepräsidenten des Bayerischen Landtages, Herrn Karl Freller, als unseren Ehrengast begrüßen zu dürfen.
„Dieses Theaterstück verdichtet die ganze Tragik des letzten Jahrhunderts. Das Schicksal einer russlanddeutschen Mutter und ihrer beiden Söhne lässt verstehen, warum sie immer als „die Anderen“ angesehen wurden. Tief beeindruckend in der Darstellung und im Inhalt! Ein Ausrufezeichen gegen Krieg, Hass, Gewalt und Nationalismus in seiner schlimmsten Form.“, so Karl Freller.
Jenseits der Fiktion – ein Bühnenstück über die Suche nach Heimat
Vielleicht ist Heimat nur die Vorstellung von einem Ort, an dem es sich gut leben lässt – mit einem Gefühl der Zugehörigkeit und der Geborgenheit. Und vielleicht entsteht diese Vorstellung auch nur in Abgrenzung zu einem Ort, an dem das nicht möglich ist. Von der komplexen Suche nach Heimat und dem Schicksal russischer Spätaussiedler erzählt das zwischen 1939 und 1990 spielende Bühnenstück „Leben jenseits des Horizonts“ von Jurij Diez und Yurii Poimanov.
Es läuft aus dem Ruder – Interview mit Dietmar Höss zu Corona
SZ: Seit März ist das Rationaltheater geschlossen. Wie fühlte sich das im ersten Moment an?
Dietmar Höss: Corona hat uns kalt erwischt, mitten in unserer letzten Produktion kam der Shutdown. Die Wochen danach hofften wir. Wir wollten einfach nicht wahr haben, dass sich monatelange Arbeit in Luft auflöst. Und im Theater durfte niemand etwas anfassen. Dort wirkte alles seltsam leblos, als wäre etwas noch viel Schlimmeres als Corona passiert.
Ideologischer Überlebenskampf
Das Leben ist ein einziger Kampf um Liebe, Anerkennung und darum, den richtigen Platz im Leben zu finden. Mancher findet sein Zuhause in einem festgezurrten, ideologischen Wertesystem, aus dem es irgendwann kein Entrinnen mehr gibt. Genauso gibt es auch kein Entrinnen vor dem Tod. In dieser Situation treffen im Sommer 2017 in der Berliner Charitè zwei Patienten aufeinander, der eine ein westdeutscher Intellektueller, der andere aus dem Osten und Chef einer rechtsextremen, nationalistischen Partei. (…)
Friede, Freude und ein zerschlagener Eierkuchen
Das Dokumentarstück „Fanal“ beschäftigt sich im Rationaltheater mit der Revolution in Bayern vor 100 Jahren. „Da hat es geraschelt im Karton“ freut sich Leni (Tatjana Kuplewatzki) am 11. Juli 1918, als sie in dem Lokal, wo sie bedient, von den Vorgängen auf der Theresienwiese erfährt. Die Sympathie für die Revolutionäre bezahlt sie am Ende des Dokumentartheaterstücks „Fanal“ im Rationaltheater mit dem Leben. (…) Sehr aufmerksam und intelligent ist der Stoff zusammengetragen und das Programmheft bietet fesselndes Lesefutter. (…)
Krug und Trug
Ein Bierkeller ist der gesellschaftliche Kosmos, in dem Intendant Dietmar Höss sein kluges Revolutionsstück „Fanal“ am Rationaltheater spielen lässt. Spätestens nach einer halben Stunde drückt die Holzbank aus dem 19. Jahrhundert gegen das Gesäß. Aus Lautsprechern an den Wänden knarzt es leise: „Wir sind das Volk!“. Das zum Bierkeller umfunktionierte Rationaltheater ist brechend voll und brütend heiß. Die Kerzen, die so konspirativ flackern, tun dabei ihr Übriges. Zur Premiere von „Fanal“ am Donnerstag sollte sich alles so anfühlen wie zu der Zeit, als Bayern – ausgerechnet Bayern – eine Revolution erlebte. (…) Am Ende wird die Münchner Räterepublik scheitern: Die bayerische und Berliner SPD-Regierung, unterstützt von Reichswehr- und Freikorps-Truppen erobert die Stadt zurück. Es gibt 1000 Tote. Die junge Erzählerin Fiona Bumann, weiß und blütenrein wie ein Engel, steigt aus einem Fenster. Hinter ihr rinnt Blut die Wand hinunter. „Hören Sie niemals auf zu träumen!“, appelliert sie. Hier schimmert Höss‘ Aufruf zum friedlichen Widerstand gegen den grassierenden Populismus am stärksten durch. „Es lebe die Revolution!“, ruft Kellnerin Leni wenig später in den mittlerweile fast stockdunklen Bierkeller. Die Kerzen hat sie alle ausgepustet. Der Wirt greift sich einen Bierkrug und schlägt sie tot.
Der graue Nebel im Kopf
Der österreichische Autor und Künstler Roland Hagenberg hat mit „Jetlag“ ein Stück über den Umgang mit Demenz geschrieben, das nun im Rationaltheater Uraufführung hat.
Ein Bühnenstück in 21 Aufzügen, das viele autobiografische Züge trägt: Denn die Geschichte des in Tokio lebenden Journalisten Eric, der alle sechs Wochen nach München fliegt, um nach seiner dementen Mutter zu sehen, das ist im Wesentlichen die von Hagenberg selbst. „Es ist im Grunde nichts anderes als ein Emotionstagebuch“, sagt der Autor, der auch Regie führt. Und der „Jetlag“, der den Protagonisten nach den Langstreckenflügen über die Zeitzonen hinweg plagt, der bezieht sich auch auf die 85-jährige Mutter, der ihr Zeitgefühl mehr und mehr abhanden kommt. „Der graue Nebel im Kopf“, sagt Eric einmal. „So muss sich meine Mutter das ganze Jahr fühlen.“ (…)